jenseits vom jetzt

Vermutlich hatte ich eine zu behütete Kindheit. So erinnere ich mich jedenfalls. Es gab keinen Alkoholismus in der Familie, keine Arbeitslosigkeit, keine Gräueltaten und die Mark musste auch nicht zweimal umgedreht werden. Krieg, Elend waren weit weg und Tschernobyl die einzige Katastrophe, die mir nahe kam. Ich durfte nicht mehr im Sandkasten spielen und Oma musste das Gemüse ihrer riesigen Beete wegwerfen. Was sie nicht tat.

Stattdessen: Aufwachsen auf dem Land, Durchstreifen der Wälder, Pauschalurlauben auf Mallorca, Skifahren in den Alpen, süddeutsches Bodenseeidyll, die üblichen Aufs und Abs in der Familie.

Auch die Jugend bot nichts Spannendes, womit man irgendjemanden hinter dem Ofen hätte vorlocken können. Keine große Liebe, keine Party- oder Drogenexzesse. Die einzige Konfrontation mit der Polizei war bei einem ungenehmigten Mini-Dreh einer Selbstmordszene auf einer Brücke, die bei Selbstmördern beliebt war. Wir mussten abbrechen – und ich war sauer, denn mir fehlte das geniale Schlussbild.

Stattdessen: TV schauen und Computer spielen (und die Schranken der Eltern gegen übermäßigem Konsum umgehen), Streben in der Schule, Kino, Sci-Fi und Fantasyromane und eine Clique von Jungs für ausuferndes Spielen in phantastischen Welten. Und Experimentieren im Schreiben.

Als die erste ernste Krise meine Familie und mich als Mensch persönlich erschütterte, hatte ich bereits schon das Abitur. Zu spät, um mir irgendwelche Kindheitstraumata zuzulegen. Vielleicht war das „Normale“ in meiner Umwelt der Grund dafür, warum ich da raus wollte. Möglichst weit weg.

Bis heute faszinieren mich Geschichten jenseits meiner Alltagswelt, abseits vom Jetzt und Hier. In anderen Welten universelle Themen erzählen. Egal ob in einer fremden Epoche der Vergangenheit oder Zukunft, ob an einem fremden, vielleicht fernen Ort, ob in einem fremden, außergewöhnlichen Milieu. Das Fremde weckt meine Neugierde. Je mehr es meine Wahrnehmung fesselt, desto besser. Dann möchte ich Entdecker sein.

Ich liebe meinen Beruf deswegen, weil er mir gestattet, anderen Welten nahezukommen, auf die Reise zu gehen. Mental oder körperlich. Weil er mich dazu zwingt, die Augen aufzumachen, neugierig sein zu müssen. Weil er damit meine Perspektive auf die Welt und mich erweitert. Weil er mir neue Erlebnis- und Erfahrungswelten eröffnet und mich dadurch bereichert. Denn dann füllen mich neue Eindrücke mit vibrierenden Erinnerungen und dem Gefühl, dass die Zeit sich dehnt und ich mein Leben wirklich lebe.